Wunderbare Jahre? Ein Gespräch mit Jörg Schönenborn (ARD-Koordinator Fiktion)

In der zweiten Staffel von „Unsere wunderbaren Jahre“ nach der Familiensaga von Peter Prange geht es um die Zeit, die in die Studentenproteste der 68er führte. Ein sehr persönliches Interview mit Jörg Schönenborn, ARD-Koordinator Fiktion, mit dem den Autor nicht nur die gemeinsame Heimatstadt verbindet, in der ein Teil der Serie gedreht wurde.

Dies ist für mich ein besonderes
Interview. Besonders, weil ich den Mann, der heute unter anderem für die  Fiktion beim WDR und der ARD zuständig ist, kennengelernt habe, lange bevor  wir beide auf sehr unterschiedlichen Wegen professionell in „die Medien“  gegangen sind. Weil wir – ein Schuljahr auseinander – nacheinander die Schülerzeitung, des Humboldtgymnasiums, die  „8 Uhr 15“, gemacht haben.
Und einseitig, weil ich Jörg Schönenborn danach erstmals wieder bei einer unter die Haut gehenden Reportage über  unsere gemeinsame Heimatstadt gehört habe: Solingen. Die Stadt, die 1993 nach einem mörderischen Brandanschlag auf eine türkische Familie in einer traurigen Linie mit Mölln und Hoyerswerda stand. Solingen, eine Stadt, die mit ihrem Stadtteil „Burg“ auch Schauplatz der Geschichte ist, deren zweite Staffel seit dem  11. März im Ersten (und in der Mediathek) zu sehen ist: „Unsere wunderbaren Jahre“ nach dem Roman von Peter Prange, verantwortet von eben jenem ortskundigen Jörg Schönenborn (WDR-Programm­direktor Information, Fiktion und Unterhaltung).
Ein persönliches und professionelles Gespräch per „Teams“
Thomas Bauer

Jörg Schönenborn - WDR-Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung, Foto Annika Fußwinkel/WDR
Christel Wolf (Katja Riemann) in der zweiten Staffel von „unsere wunderbaren Jahre“, im Ersten ab 11.März 2023 und in der ARD- Mediathek © WDR/UFA Fiction/Wolfgang Ennenbach,

Zur ARD-Mediathek, Staffel 2 hier (link)

Interview  mit Jörg Schönenborn, ARD-Koordinator Fiktion und WDR-Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung, 14.02. 2023, via Teams, zu „Unsere wunderbaren Jahre“

Du kommst ja aus dem journalistischen Bereich, ohne sie infrage zu stellen, woher stammt die Befähigung, auch über den fiktionalen Bereich zu entscheiden?
Ich bin ja Programmdirektor und nicht Film- oder Seriendirektor. Das heißt, meine Aufgabe ist das Gesamtprogramm im Blick zu haben. Das gilt für die WDR-Programmangebote in meiner Direktion, das gilt aber auch für die Koordination Fiktion. Die Aufgabe ist zu schauen, in welche Richtung wir uns entwickeln müssen, welche Marktentwicklungen es gibt – natürlich auch ganz stark mit dem Blick darauf, was sich technisch tut – um dann mit den Redaktionsleiterinnen und Redaktionsleitern Verabredungen zu treffen. Es ist eine strategische Aufgabe. Es geht als Koordinator natürlich auch darum, welchen Platz hat z.B. der Sport, welchen Platz hat die Unterhaltung, welchen Platz haben die Serie und der Film im Gemeinschaftsprogramm.
Wir haben in der ARD, wie beim ZDF, am Abend die Hauptsendeplätze. Die beginnen vor allem mit fiktionalen Angeboten. Insofern ist die strategische Entwicklung die große Herausforderung, also: Was können wir weitermachen wie bisher, was müssen wir in der ARD Neues machen?

Inwieweit bringst Du Dich selber mit ein in die Entscheidungen, was Drehbücher betrifft, was die Auswahl der Produktionsfirmen betrifft, was mich für meinen Bereich besonders interessiert, in die Besetzung?
Es kommt ganz selten vor, dass wir mit Schauspielerinnen und Schauspielern als Sender direkt einen Vertrag machen. Das kommt beim Tatort vor, wenn man über 20 Jahre mit jemandem zusammenarbeitet. Ansonsten ist das Teil der kreativen Arbeit der Produzentinnen und Produzenten. In der Regel werden unseren Redaktionen Stoffe angeboten. Und wenn wir sie gemeinsam entwickeln wollen, dann ist es erst einmal die Aufgabe von Regie und Produktion, Vorschläge für den Cast zu machen. Oft ist es so, dass eine bestimmte Regie mit bestimmten Schauspielerinnen und Schauspielern gerne zusammenarbeitet. Wenn wir entscheiden, ob wir etwas machen, dann schaue ich mir das Gesamtkonstrukt an. Wenn ich mal kritische Rückfragen stelle, dann geht es da nicht um die einzelne Besetzung, sondern mehr um grundsätzliche Fragen, etwa die Frage der Grundausrichtung oder der Erzählweise.

Liest Du die Drehbücher?
Nur im Ausnahmefall, wenn Projekte zum Beispiel einen außerordentlichen Etat haben oder sehr zugespitzt angelegt sind. Aber die Bücher lese ich dann auch nicht, um sie zu redigieren oder Veränderungen vorzuschlagen. Normalerweise sehe ich erste Rohfassungen der Filme und gebe dazu auch meine Rückmeldung. Meistens geht es da um die Fragen der strategischen Platzierung im linearen und digitalen Angebot der ARD. Das ist das Hauptvergnügen, auch wenn das manchmal etwas eingeschränkt ist, da eine Rohfassung ja noch nicht das fertige Produkt ist.

Dass das von Interesse ist, kann ich mir zum Beispiel bei Themenabenden vorstellen. Aber das findet dann also nicht vor dem Dreh statt, sondern anhand der Rohfassung.
Die ARD Koordination Fiktion ist regelmäßig und mit größerem Vorlauf im Austausch mit der ARD-Programmdirektion über Stoffe, die sich für einen Themenabend eignen könnten. Allerdings wird nicht jeder Rohschnitt automatisch auf diese Frage hin gesichtet.
Im Übrigen haben wir exzellente Redakteurinnen und Redakteure, nicht nur im WDR, sondern insgesamt in der ARD, die auch jenseits des reinen Fernsehfilms durch die Debüt-Betreuung Kreative oft vom ersten Schritt an begleiten. Was häufiger stattfindet ist, dass noch einmal eine kollegiale Beratung stattfindet und jemand aus dem Team hinzugezogen wird. Aber weder kann ich das noch ist das meine Aufgabe.

Im Moment gibt es gesellschaftlich, vor allem in Social Media ja eine extreme Aufspaltung, mit ausgeprägten Meinungen bei oft eingeschränktem Wissen. Aus Anlass der aktuellen Produktion aber auch aufgrund Deiner Gesamtverantwortung in der ARD: Welche Rolle kann und soll der Bereich „Fiktion“ in der politischen und gesellschaftlichen Bildung spielen?
Er sollte auf jeden Fall eine Rolle spielen. Er soll ja der Gesellschaft in der Entwicklung helfen. In der deutschen Geschichte gibt es über die Jahrzehnte immer wieder eine extreme Polarisierung und Konfrontation. Die ist ja davon geprägt, dass die Kontrahenten einander meiden und nicht zuhören, nicht aufeinander eingehen und in unterschiedlichen Realitäten leben. Wir erleben ja in politischen Debatten genau das: Da sitzen zwei im Studio, aber sie reden nicht wirklich miteinander, hören nicht wirklich auf ihre Argumente.
Da liegt eine der großen Chancen des Films oder der Serie. Dadurch, dass es nicht reale Argumente sind, sondern ich mit einer Schauspielerin besetze oder eine bestimmte Atmosphäre schaffe, das Thema vielleicht in eine Familiengeschichte einrahme, schaffe ich für das Publikum Zugang zu Welten, die ich mir sonst vielleicht nicht angucken würde. Das ist bei „Unsere wunderbaren Jahre“ ein Klassiker. Wir laufen auf die 68er zu. Natürlich überzeichnet der Film und stellt diese Welten besonders attraktiv und zugespitzt gegeneinander. Aber die Chance ist doch, dass ich mich als Zuschauer darauf einlasse, selbst wenn ich mich emotional einer anderen Welt zugehörig fühle.

Es gibt ja verschiedene Wege und Sprünge, um zu einer nächsten Staffel zu gehen. Bei den Kollegen vom ZDF waren es beim „Ku’damm 56/59/63“ Sprünge, bei denen die Schauspieler quasi mitgealtert sind, bei denen man als Zuschauer noch am Ende der letzten Staffel fast noch dran war. Hier ist ein sehr großer zeitlicher Sprung, bei „Charite“ sehe ich ein ganz extremes Beispiel, bei dem man sich traut, in die Zukunft zu springen und mutig zu sagen, jetzt machen wir Science Fiction. Wo wird die dritte Staffel von „Unsere wunderbaren Jahre“ zeitlich stattfinden?
Im Moment gibt es Entwicklungsüberlegungen für die 80er, wo wir auf die Wendezeit zulaufen, die ja auch wieder eine Zeit großer internationaler Konfrontationen ist, die sich am Ende auflösen. Der großartige Roman von Peter Prange „Unsere wunderbaren Jahre“ ist ja eine kontinuierliche Familienerzählung. Die Grundentscheidung der Redaktion war, wir erzählen das nicht nach, sondern wir fokussieren dort, wo die Brüche besonders deutlich sind. Wenn man mit diesem Fokus draufschaut, ist es recht logisch, dass man die unmittelbare Nachkriegszeit hat, dann die sich entwickelnden 60er – und dann sind die 80er der nächste logische Schritt.

War es für die Schauspielerinnen und Schauspieler selbstverständlich, bei der Folgestafel wieder mitzumachen, war das vertraglich schon vorab geregelt?
Nein, das ist nicht vorab geregelt, insofern tragen wir immer das Risiko, dass der Hauptcast sagen könnte, nein, das wollen wir nicht mehr. Aber der jetzige Hauptcast hat sich mit uns gefreut, die erste Staffel hatte einen sehr großen Erfolg und war damals der Mediatheken-Knaller, als wir begonnen haben, diese Plattform nach vorne zu stellen. Insofern waren sie gerne bereit, bei der 2. Staffel wieder mitzuwirken. Es wird im Team auch darüber gesprochen, das ist kein Geheimnis, dass es einen nächsten Sprung geben könnte. Einige signalisieren auch, dass sie gerne wieder dabei wären. Aber so wie wir auch jetzt in Teilen gewechselt haben und eine neue Generation einfügen, wird man das dann sicher auch tun müssen.

Bei historischen Stoffen kann man ja recht frei „Behauptungen“ aufstellen, keiner war dabei, man kann sich dramaturgisch anlehnen an das, was man aus der Geschichte weiß. In diesen Erzählungen aber sind ja viele der heutigen Zuschauer noch mit aufgewachsen. Welche Herausforderungen sehen Sie erzählerisch darin, eine „semihistorische“ Produktion zu drehen?
Es hat ja auch in den 60ern viele Wirklichkeiten gegeben. Als ich das gesehen habe, habe ich daran gedacht, womit ich mich beschäftigt habe, als in Solingen Gastarbeiter wohnten, wo sie arbeiteten, wie ich sie nach und nach im Fußballverein kennengelernt habe. Natürlich ist das in der Geschichte sehr zugespitzt. Aber dass Menschen in sozial schwierigen Wohnsituationen dort lebten, wo die Häuser schon dem Verfall nahe waren, das habe ich auch in Erinnerung.
Die Geschichte muss Anknüpfungspunkte haben, es muss nicht alles 1:1 wiedergegeben sein, aber als jemand, der sich an die Zeit erinnert, muss ich mich wiederfinden können. Deshalb finde ich es auch so wichtig, dass es nicht in einer Großstadt spielt. Heute ist das etwas anders, aber die meisten Menschen haben damals nicht in großen Städten gewohnt. Altena, Zons, Schloss Burg oder wo auch immer es in den jeweiligen Staffeln gedreht war, steht für Provinz im guten Sinne. Das ist eine Heimat, die wir von unserem Aufwachsen auch kennen, die eben nicht Köln-Ehrenfeld oder Berlin Mitte ist.

Jetzt werde ich doch ein bisschen persönlich. Für mich war es damals ein erschütternder Moment, als ich Dich in der Reportage aus unserer gemeinsamen Heimat gehört habe, mit dem Wissen, jetzt steht Solingen in einer Reihe mit Mölln und den anderen schrecklichen Ereignissen. (Dem Mordanschlag mit rechtsextremem Hintergrund auf das Haus der Familie Genc in Solingen waren am 29. Mai 1993 fünf Menschen zum Opfer gefallen, Red.) Hat dieses persönliche Erleben, auch dieses journalistische „Prominentwerden“ heute noch einen Einfluss darauf, wie Du auf die Arbeit der Kollegen schaust?
Ich habe über viele Katastrophen berichtet, aber zum Glück nie Krieg erlebt – und bin jetzt in der Situation, regelmäßig mit Kolleginnen und Kollegen zu sprechen, die in Frontnähe waren, die zum Beispiel im Donbass oder in Kiew Krieg erleben. Und ich maße mir nicht an, das einschätzen zu können. Aber ich denke oft daran und es war eine prägende Erfahrung, wie ich die Familie Genc dort am Sonntag erlebt habe, wie sie aus der Unterkunft in Burg zurückkamen und in ihrer Verzweiflung mit der Polizei das Haus angesehen haben.

„Im Westen nichts Neues“ ist ja für neun Oscars nominiert, darunter als „Bester Film“. Hätte so eine Produktion eine Chance gehabt, bei der ARD – oder auch dem ZDF – realisiert zu werden, wenn sie vorgeschlagen worden wäre?
Ich weiß nicht, ob sie vorgeschlagen wurde. Wir haben ja in dieser Kategorie (hier: „Bester internationaler Film“, bis 2019 „Bester fremdsprachiger Film“, Red.) auch schon mehrfach von der ARD koproduzierte Filme gehabt, „Werk ohne Autor“, „Das weiße Band“, „Toni Erdmann“. Wir sind ja ehrlich gesagt als ARD der größte Möglichmacher für Kinofilme, auch weiterhin. Das Engagement ist schwieriger geworden, in einem Markt, in dem die SVoD-Fenster („Subscription Video on Demand“, Streaming-Abomodelle, Red.) die Wahrnehmung bestimmen. Wir sind auch mit den Verleihern gerade in schwierigen Diskussionen über die Aufteilung der Veröffentlichungsfenster. Aber es gibt kaum einen künstlerisch relevanten Kinofilm in Deutschland, der nicht ARD-koproduziert ist. Ein ARD-Sender ist in der Regel der erste, der einen wesentlichen finanziellen Beitrag zusagt.
Insofern freue ich mich über die Nominierung für einen deutschen Film, daran hängt ja auch immer eine Motivation für Talente in allen Bereichen. Diesmal war die ARD halt nicht dabei, aber oft haben wir ja mitgezittert.

Als die Streaming-Anbieter aufkamen hieß es meist, die besetzen einen Star und ansonsten weitgehend gute aber weniger bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler. Das hat sich meiner Wahrnehmung nach relativiert und an sonstige Besetzungen angeglichen. Was hat sich trotzdem durch die geänderte Konkurrenzsituation für die ARD geändert? Auch im Hinblick auf Diversifizierung, auf die klassische Kritik (ich weiß, dass viele Caster und Redakteure anders denken), dass immer die gleichen besetzt werden?
Ich sage einmal, was sich nicht geändert hat. Nicht geändert hat sich, dass die Debütarbeit in vielen Bereichen ganz zentral ist – und dass die meisten erfolgreichen Kreativen vor oder hinter der Kamera einen ihrer ersten Filme zusammen mit einer ARD-Redaktion gemacht haben. Das ist eine breite Kontaktbasis. Ein guter Teil der Besetzung hat auch damit zu tun, dass wir regional an den Schulen, an den Film- und Schauspielschulen Kontakte haben. Das sind die Streamer punktuell präsent, aber die machen sich nicht die Mühe und die Gedanken um den Nachwuchs, die wir uns machen.
Was sich geändert hat, das ist, dass man, wenn man erfolgreich ist, sehr viel mehr Geld verdienen kann und man viel gefragter ist. Allerdings muss man auch sagen: Die Spitze ist sehr, sehr schmal. In dieser schmalen Spitze können wir nicht mit Geld mithalten. Wir können nur versuchen, attraktive Angebote zu machen und die großen Stars dann auch für bezahlbare Gagen zu halten. Das gelingt ja auch, sie mögen ja auch was wir tun.

Was habe ich Dich nicht gefragt?
Mit der Produktion „Unsere wunderbaren Jahre“ verbinde ich Kindheitserinnerungen, weil wir mit der Schule in der Jugendherberge in Altena, der ältesten deutschen Jugendherberge waren. Ich bin da in der Burg herumgeklettert, wir waren an der Lenne. In der Bundeswehr habe ich einen guten Freund kennengelernt, der aus Altena kam. Insofern habe ich mein Leben lang gute Kontakte zu Altena gehabt und finde es klasse, dass es um eine Heimat geht, die meiner Heimat nicht sehr fern ist. Natürlich sieht es etwas anders aus, aber ist geprägt von kleinen Betrieben der Metallindustrie, manchen Fabrikanten, die ihre Stadtteile im Guten wie im Schlechten bestimmen und prägen. Das hat mich für den Stoff begeistert, den ich gerne unterstützt habe.

Interview Thomas Bauer